Montag, 27. April 2009

Kapitel 11.5

Auf der Grabung packten wir die Sachen aus und wollten direkt den Grill zusammenbauen, mussten aber feststellen, dass dafür Werkzeug erforderlich war. Glücklicherweise hatte Hans auch diesmal seinen Werkzeugkasten dabei, daher verzögerte sich der Aufbau kaum.
Zwischenzeitlich stolperte Jan von der Grabungsfläche zu uns: „Seid ihr bald fertig? Ist ja schon dreiviertel zwölf! Das Grillen dauert gleich ja schließlich auch noch.“
Unwillkürlich blickte ich auf die Uhr, die abgekürzte Zeitansage erschloss sich mir damals noch nicht. Ich sagte: „Viertel vor, stimmt“, und Jan erwiderte: „Viertel vor was? Was ist das denn für ein Quatsch? Dreiviertel heißt das. Wenn du einen Kuchen fast aufgegessen hast, sagst du ja auch nicht, der Kuchen ist viertel vor.“ Jan ging weg. Er schüttelte den Kopf, ich auch. Micha schwieg und schraubte weiter an der Edelstahlsäule. Irgendwann war es dann so weit, Grillrost und Windschutz waren installiert. Der stolze Grillbesitzer erklärte sich feierlich zum Koch und schüttete die Kohle in seinen neuesten Schatz. Mit leeren Fundzetteln entfachte er auf ihnen ein Feuer, das die schwarz gemeilerten Hölzer zum Glühen bringen sollte. Weißlicher Rauch züngelte am Werkzeugcontainer vorbei in den blauen Himmel. Bald fächerwedelte Micha mit einem steif-bogigen Pappteller und versorgte die noch kleine Glut mit frischer Luft.
Schon begannen wir, die ersten Würstchen auf das jungfräuliche Gitter zu legen, als Sylvia sich aus dem Bauwagen zu uns gesellte.
„Na, habt ihr alles gekriegt?“
„Denke schon“, beschied ich kurz.
„Ja, heute kriegt man ja alles“, erwiderte sie nachdenklich, „früher war das viel einfacher. Da gab es zwar fast nüscht, aber man wusste wenigstens, was man kaufen kann. Heute stehe ich bei Liddel immer vor den Regalen und hab keine Ahnung, was ich mitnehmen soll.“ Stumm schaute ich sie an und sie schilderte weiter, „da ist ja alles immer so bunt und es gibt von allem hundert Sorten. Und man weiß nie, kauf ich jetzt das richtige oder ist das doch nicht gut?“
Ich erinnerte mich an die Wendezeit-Beschwerden, die mir ein Bekannter von seinen Kindern erzählt hatte. Ohne jedes Verständnis für die historischen Dimension des Unterganges des vorgeblichen Arbeiter-und-Bauern-Regimes mokierten sie sich allein darüber, dass plötzlich die Regale ihres westdeutschen Wohlstandssupermarktes leer und ausgeräumt waren. Sie bekamen ihren gewohnten Zucker-Schoko-Frühstücksmüll nicht mehr vorgesetzt, weil nun ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern eine Zeit lang vorrangig versorgt wurden. Die Konzerne hatten eben ein paar Monate Gefallen daran gefunden, Westkonsumenten vorzuführen, wie es jahrzehntelang in Ostgeschäften abgelaufen war, indem sie ganze Produktchargen direkt über die Grenze karrten. Das war echte Solidarität. Oder Kapitalismus, wenn man schlicht den damaligen Grad der Nachfrage beiderseits der Grenze miteinander vergleicht.
Dann grinste Sylvia plötzlich und lächelte über Michas Baseballmütze: „Weißte Micha, wenn du nivellierst, drehst du die Kappe auch immer nach hinten.“ Mit ihren Händen zeigte sie kurz an ihrer Kappe, was sie meinte, ohne sie richtig zu drehen, weil ihr Zopf hinten heraushing. Micha sah sie an und nickte in die Sonne. „Wenn du dann am Nivellier stehst, denn siehste immer aus, als ob du einen Film drehst.“ Jetzt machte sie kurbelnde Bewegungen in der Luft, „weißte, so wie früher, die Kameramänner.“
Micha machte ein hocherfreute Gesicht: „Soll ich dir mal einen von meinen Filmen vorführen?“, aber Sylvia winkte grinsend ab. Inzwischen hatten wir auch einen Teil des Fleisches auf den Grill gelegt. Micha öffnete das erste Bier, das er zunächst natürlich nicht zu trinken gedachte, sondern auf dem Grill zur geschmacklichen Unterstützung verwendete. Bald kam Jan mit den anderen an und fragte: „Mein Filet habt ihr auch schon draufgelegt?“ Eine Beantwortung erübrigte sich jedoch, weil er im Fragen gesehen hatte, dass es brutzelte.
Wernher ermahnte den kleinen noch einmal: „Da musste aba scheen uffpassen, dit dit nich trockn wird!“
Sylvia holte aus dem Kofferraum von Hans’ Wagen noch ein paar Grillsaucen, die sie mitgebracht hatte und ein Paket Toast. Stefan ging währenddessen zu seinem Pick-up und wurstelte sich aus einer Kühltasche eine bereits ausgenommene Forelle, mit der er dann zu uns kam.
„Hier, ha’ck selba jeanglt. Jrad jestern erss!“, verkündete er stolz und quetschte seine Forelle auf den Rost.
Hans staunte: „Ihr trinkt ja schon das erste Bier?“ Aber Micha winkte ab: „Nee, das ist doch nur das Grillbier!“
„Was für’n Bier habt ihr uns denn mitgebracht?“, wollte Dieter nun wissen und auch Stefan wurde neugierig: „Radeberjer? Hättet-ta ma lieba ’n anständijet Westpils jeholt!“
Das erboste Hans: „Dabei schmeckt Radeberger doch schon längst wie’n Westpils, früher, ja, da war das gut, da haben se sich vorm Jahresende vorm HO noch ums Bier geprügelt.“
„Daran kann ick mir ooch noch erinnern“, träumte Wernher, „und damals hat et ja ooch noch jeschmeckt, nich wahr, Hans?“
Längst hatten sich alle in einem Kreis um den Grill verteilt mit gebührendem Abstand zu den Bierdampfschwaden, die Micha regelmäßig durch das Nachmarinieren erzeugte. Im Gesicht des einen oder anderen sah man zuweilen prüfende Blicke, ob sich nicht vielleicht der Wind drehte. Inzwischen hatten sich alle Biertrinker eine Patrone genommen und geöffnet. Ab und zu saugten sie an dem runden Blech.
„Kuckt mal, ein Storch“, Sylvia lenkte alle Blicke zum Himmel, „so was gibt’s im Westen gar nicht mehr.“ Ich setzte ein sehr verdutztes Gesicht auf, da erklärte sie schon, „na im Westen ist doch nur Industrie und alles voller Straßen. So was wie Natur gibt’s da doch gar nicht mehr.“
Ich bemerkte lapidar: „Mal davon abgesehen, dass im Westen gerade alte Industriegebiete in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr grün geworden sind, möchte ich dezent an Bitterfeld erinnern.“
„Das ist ja nur ein Extrembeispiel. Dafür haben wir nicht so viele Autobahnen, sondern viel mehr Natur. Und Störche oder Frösche, das gibt’s bei euch doch gar nicht mehr.“
„Natürlich, ich hab ja als Kind immer Frösche und Molche gefangen.“
„Ja, du weißt doch, wie ich das meine“, beschwichtigte sie, „Anwesende sind schließlich ausgenommen, du bist ja sowieso nicht wie die anderen Wessis.“
„Bist du denn schon mal dagewesen?“, fragte ich Sylvia, „Also im Westen?“
Sie schüttelte den Kopf, Hans erhob aber für sie den Zeigefinger und meinte: „Ich bin schon mal in Braunschweig gewesen, da habe ich Sperrmüll verkauft. Und was ich da vom Westen gesehen habe, reicht mir, das brauch ich nicht noch mal.“
„Naja, Braunschweig dürfte kaum typisch für den ganzen Westen sein“, merkte ich an und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Stefan, der Dieter inzwischen mit Anglerlatein unterhielt.
„... sooo jroß war der, son richtijen Kawennsmann“, Stefan riss seine Arme so weit auseinander, wie er es nur vermochte, „aba denn war da uff eenmal son komischet Jeräusch.“ Der Baggerfahrer stimmte ein sehr dumpfes Huu-Huu an, „det wa in de Büsche drinn. Da ham wa uns so erschreckt! Mein Kumpel hat sojar seine Angel da liejn lassn“, er lachte, „weil er dachte, det da wer erdosselt wird, oda sojar schon tot is. Ick hab mir mehr Sorjen jemacht, det det die Aufsicht is, un wa hattn doch keene Papiere nischt, also sinn wa losjefarn.“
Auch Jan hörte aufmerksam zu und vermutete hinter dem Geräusch: „Das war doch bestimmt ’ne Kuh, die in den See gefallen ist, oder?“
Aber der kopfschüttelnde Dieter wusste mehr: „Du hast gesagt, das war hier am Pleuner See?“, Stefan nickte, „Dann war das ’ne Rohrdommel.“
„’ne Rohrdommel?“ Der Baggerfahrer staunte, „Det Jeräusch soll ’n Vojel jewesn sein?“
„Ja natürlich!“, beharrte Dieter mit seiner kindlichen Überzeugung, „Die Rohrdommel nennt man deswegen doch auch Moorochse. Oder – na, wie noch – genau: Wasserochse. Außerdem kenne ich den See, da fahr ich immer mit meiner Frau hin.“ Die Augen des Seemanns nahmen wieder ihre fröhliche Faltenstellung ein, „die schimpft dann immer. Wenn wir da hinfahren“, imitierte er die Stimme seiner besseren Hälfte, „denn will ich mich auch in die Sonne legen. Du gehst doch immer nur am Ufer spazieren und sammelst Flint.“
„Ist da ein Fundplatz?“, fragte ich.
„Ja, natürlich. Mesolithikum. Ich sammel da schon seit Jahren. Weißt du, ich merk das schon beim Drüberlaufen“, mit seinen Händen versuchte er mir bildhaft die Bewegung seiner Füße nachzuahmen, „wenn ich auf geschlagenen Flint trete. Der hört sich anders an, als irgendwelche Rohlinge oder natürlicher Bruch. Das ist ein viel helleres Geräusch, wenn der geschlagen ist.“ Er hielt die Hand ans Ohr, als ob er dem Klang eines imaginären Flintfundes lauschen wollte.
Micha nahm inzwischen die ersten Sachen vom Grill und verteilte sie an die Leute. Stefans Fisch musste noch länger brutzeln und Jan bestand darauf, dass sein Filet durchgebraten wird. Rind müsse gut durch, wusste er uns zu belehren. Nachdem die meisten zuvor noch gestanden und sich bestenfalls an Container und Bauwagen angelehnt hatten, suchte sich spätestens jetzt zum Essen jeder irgendein Plätzchen, auf das er sich setzen konnte. Drei Leute nutzten die Anhängergabel, andere nutzten stabile Eimer, ich machte es mir in einer hochgekippten Schubkarre bequem. Sylvia lachte darüber, aber ich erklärte fröhlich: „Das ist besser als der Sessel, den ich zuhause habe.“
Micha fragte den Baggerfahrer: „Willst du nicht doch ’ne Wurst?“
Doch Stefan verweigerte: „Mit Semf? Ick ess doch keene Wurst, die keene Körriwurst nich is! Wenn dann ess ick nur ’ne Bärlina Körriwurst.“ Er grinste.
„Ja, die Berliner Variante. Einer der beiden Currywurstpole.“
„Wat heißt’enn eena? De Körriwurst kommt aus Bärlin! Die hat die Heuwa nachm Kriech am Stutti erfundn!“
„Dann bist du also ein Vertreter der Theorie einer Berliner Currywurst-Genese?“ Der Hell’s Angel blickte mich rätselnd an. Er hatte gehört, was ich gesagt habe, aber kein Wort verstanden. Micha knabberte inzwischen an seinem Steak-Lutscher herum und betrachtete unser Wurstduell. „Ich weiß, dass es in Gelsenkirchen schon genauso lange Currywürste gibt, deshalb denk ich, dass die etwa gleichzeitig an mehreren Orten entstanden ist. Angeblich gibt’s ja sogar Hamburger, die die Erfindung für sich reklamieren.“
Da war Stefan mit mir einer Meinung: „In Hamburg? Ja, det is nu totala Quatsch!“ Er wischte die Idee beiseite und lobte anerkennend: „Nee, eure Ruhrpottwurst is zwar janz anndas, aba wenichstens is det ’ne Körriwurst!“ Wir grinsten uns entspannt an.
Während der Toast reihum durchgereicht wurde, lachte Wernher plötzlich verschmitzt auf: „Ha’ck euch eijentlich schon ma vom dem Jrabungsleiter erzählt, der ’ne Kuh nich vom Pferd unterscheiden konnte?“
Gleichzeitig folgte das Senfglas dem Toast und wieder bediente sich jeder der Reihe nach. Auf Wernhers Frage schüttelten alle den Kopf, die ersten begannen zu kauen.
„Na, det war so. Wir hattn son Befund ausjejrabn, da war son Tierschädel drin. Denn kam die Presse und der Jrabungsleiter erzählte denen wat vom Pferd. Aba im Wortsinne.“ Wernher griente. „Als die Presse weg war – vorher ha’ck natürlich det Maul jehaltn, wollt den ja nich blamiern! –, da ha’ck den zur Seite jenomm un ihm jesacht, Mensch, pass ma uff, det kann doch keen Pferd nich sein. Kiek ma, det hat doch Hörner! – Da schüttelt der den Kopp, neinnein, das ist ein Pferd. – Un ick wieda, ja denn kiek doch hin, hier, siehste die Hörner nich? Aber der wollt det partu nich wahrham. Der hat det nich zujejebn.“ Wernhers Gesicht glich wieder dem eines satten Katers, der gut gelaunt auf seiner Veranda liegt.
Sylvia staunte: „Aber der muss doch auch studiert haben?“
„Das muss gar nichts heißen“, wusste ich einzuwerfen, „was meinst du, wie viele Leute an der Uni erst so richtig verblöden?“ Mit einem Gedanken an Senff ergänzte ich, „und wie viele kommen schon total blöde an!“
Schließlich richtete sich die Besetzung von Ämtern noch nie in der Menschheitsgeschichte nach den Fähigkeiten und Talenten des ausgewählten Kandidaten. Unwichtige Faktoren gaben wesentlich häufiger den Ausschlag, als sich so mancher träumen lässt. Wahrscheinlich sind hierin die Gründe dafür zu finden, warum der Anteil der Hohlköpfe und Begriffsstutzigen ausgerechnet bei Wissenschaftlern am höchsten ist, obwohl sie stets von sich glauben, überlegenes Wissen angehäuft zu haben. Entsprechend hoch ist besonders an Universitäten die Wahrscheinlichkeit, solche Leute zu treffen und kennenzulernen. Sie selbst sehen sich natürlich als Verdauungsorgan der geistigen Nahrung. In Wirklichkeit sind sie nicht mehr als ein offenes Magengeschwür. Und genau an dieser Fehleinschätzung wird die Demokratie dieser Pseudo-Eliten eines Tages zugrunde gehen.
Ich weiß nicht, wie Micha es merken konnte, aber er ahnte, dass ich an Senff dachte. Vielleicht habe ich einfach zu lange auf das Senfglas gestarrt.
„Du meinst unsern Maxim? Hm?“ Ich nickte wortlos und biss mit zusammengenkniffenen Augen in meine Bratwurst.
Micha begann verbittert zu plaudern: „Na, was das Fach angeht, ist er auf jeden Fall ein Idiot und menschlich sowieso. Das wissen wir ja alle. Aber es gelingt ihm zumindest, aus Verhandlungen das Beste herauszuholen. Wusstest du“, er zeigte mit der besenften Wurst auf mich, „dass der hier in der Nähe ein Ferienhaus hat?“ Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nur son Altbau, günstig gekauft, wahrscheinlich für zehn Riesen oder so. Sieht aber inzwischen aus wie aus dem Ei gepellt.“ Die anderen schwiegen betreten, es schien, dass der Baggerfahrer und ich die einzigen waren, die die folgende Geschichte nicht kannten. „Und weißt du, wann das renoviert wurde? Und von wem?“ Wieder musste ich gestisch verneinen. „Kurz nachdem zwei Grabungen an Autobahnbrücken eingestellt wurden, die nach Voruntersuchungen beste Ergebnisse gebracht hatten und bei denen die meisten von uns bereits angefangen hatten zu arbeiten. Und sein Häuschen wurde nach Abbruch der Grabungen ganz zufällig von derselben Firma renoviert, die die Brücken gebaut hat. Immer am Wochenende.“ Sogar Wernher blieb ruhig, wie ich verwundert feststellte. Wenn er noch Senffs Büttel war, konnte es nicht lange dauern, und der Abteilungsleiter der Sonderprojekte würde erfahren, was über ihn geredet wurde. Inzwischen muss ich davon ausgehen, dass Wernher bereits während meiner Grabung längst nicht mehr in dieser Hinsicht für Senff arbeitete.
Ein Wartburg fuhr auf das Grabungsgelände. Langsam röhrte er an den Container und die Bauwagen heran, alle schauten mampfend in seine Richtung. Aus dem Auto stieg ein typischer Bauer mit einer gefütterten Cordweste und einem fleckigen Manchesterhut. Er kam zu uns und ich sah, dass er in den Händen ein kleines Etwas trug.
„Mahlzeit! Sacht ma, wer is denn der Chef hier?“
Dieter wies auf mich und ergänzte grinsend, „Der hier. Mit der komischen Brille.“
Der Bauer wunderte sich überhaupt nicht darüber, dass wir grillten, und stiefelte bedächtig zu mir. Ich erhob mich aus meiner Schubkarre.
„Mir gehört ja der Hof da hinten“, zeigte er und sprach langsam, „da hab ich jeden Tach gesehn, dass ihr hier arbeitet. Da hat meine Frau gesacht, geh doch ma zu den Geologen da hin und zeich den’ unsern Stein. Der is ma bei der LPG auf’m Acker runtergekomm. Da hab ich den gefunden. Die solln sich den ma ankuckn, sacht’se. Nich dass das hier von so Außerirdischen is. Oder so radiotisch. Hier. Kuck dir das man an.“ Er hielt mir einen grauen Klops unter die Nase. „Is das ’n Meteorit?“
Ich hatte meine Steak gegessen und legte den leeren Pappteller zur Seite, um die Hände frei zu haben. Dann nahm ich ihm den kleinen kugeligen Stein ab und sah auf dem ersten Blick, um was es sich handelte.
„Nee, das ist kein Meteorit. Das ist ein versteinerter Seeigel. Hier schauen Sie mal“, zeigte ich mit dem Zeigefinger, „hier sehen Sie die Stachelansätze.“
„Also nich aus dem All?“, fragte der Bauer zweifelnd.
„Ganz bestimmt nicht“, versicherte ich.
„Na, hoffentlich glaubt’se mir das“, er zögerte einen Moment, die anderen blieben stumm, waren aber merklich erheitert, dann entschied er sich wieder zu gehen, „ja, dann Mahlzeit, ich muss jetzt auch zum Essen.“
Er saß kaum in seinem Auto, da blödelte Micha schon herum, „Hättest ihm für seine Alte ja wenigstens mal ein schriftliches Gutachten ausstellen können“, und alle lachten, während der Wartburg des Bauers rückwärts vom Acker sprotzte.
„Jaja, die Bauern“, meinte Wernher, „die leiden hier ooch richtich unter den Jrabungen.“
„Na, wie man’s nimmt“, erwiderte ich, als ich mich wieder in die Schubkarre setzte, „normalerweise kassieren die doch doppelt und dreifach.“
Wernher blickte mich fragend an und ich erklärte: „Die kriegen doch nicht nur die Entschädigung, die mehr beträgt, als sie mit der Ernte je verdient hätten, sondern holen auch dann noch das Letzte raus. Ich hab mal auf ’nem Kartoffelacker gegraben, da kam der Bauer regelmäßig mit der ganzen Familie an und hat die ganzen Kartoffeln, die wir ausgebaggert haben, eingesammelt und an der Straße verkauft, obwohl die noch die fette Entschädigung kassiert haben.“
„Man darf de Lebensmittel aber doch ooch nich verkomm’ lassn“, ermahnte Wernher.
„Natürlich nicht – aber wenn sie Teile der Ernte noch retten, sollen sie auch keine übertriebene Entschädigung verlangen. Die zahlen wir schließlich alle über Steuern.“
„So jesehen haste recht“, stimmte Wernher mir zu und Hans pampte: „Den Bauern ging es doch immer gut. Die haben doch auch nach dem Krieg das ganze Silberbesteck von meiner Mutter und meinen Großeltern kassiert, nur damit wir was zu beißen hatten!“
„Meene Forelle muss doch bald fertig sein“, meinte Stefan und nahm sich seine Forelle vom Grill.
„Na, und mein Filet ist bestimmt auch langsam fertig.“ Jan schritt zum Grill und warf sich das braungebrannte Fleischstück auf seinen Pappteller. Er stolzierte zu seinem Platz zurück wie ein junger Hund mit seinem Lieblingsspielzeug und operierte und meißelte sich durch die Muskelfasern.
„Das ist ja total hart!“, beschwerte er sich nach dem ersten Probestück, „was habt ihr denn damit auf dem Grill gemacht?“
Wernher schmunzelte nur „Ha’ck dir det nich jesacht?“
Jan reagierte nicht darauf, sondern sprach mit sich selbst: „Ich muss erst mal was trinken, das ist mir zu trocken.“
Plötzlich rumpelte Wielands verbeulter Dienstwagen über der Landstraße. Er setzte sehr mutig auf unserem Acker auf und federte bis zu unserer Gruppe. Als Wieland ausstieg, begrüßte Micha ihn: „Ho-ho, immer ruhig mit den jungen Pferden! Möchtest du ’ne Wurst?“
Wieland sah gehetzt aus, „Was? Nein, danke!“, und lief auf mich zu. „War Senff schon bei euch?“, fragte er dann.
„Nein – wieso?“
„Der sollte doch heute kommen, wir haben gerade ein Körpergrab entdeckt, ein Fürstengrab mit Schwert und gut erhaltenen Holzeimerresten. Warum passiert so was eigentlich immer Freitags mittags?“
Ich erschrak, weil ich sofort wusste, was das bedeutete. Herausragende Funde und Befunde kann man niemals über ein Wochenende unbeobachtet liegen lassen. Es gibt nur drei Möglichkeiten, wie man mit solchen Funden an Wochenenden umgehen kann. Entweder muss man sie wieder zuschütten und sehr gut tarnen, bis man die Untersuchung in der Folgewoche mit der richtigen Muße und dem nötigen Equipement durchführen kann. Leider ist es keinem Befund besonders zuträglich, wenn man ihn erneut unter Erdmassen begräbt und ein zweites Mal freilegt. Eine andere Möglichkeit wäre, den Befund auf der Stelle auszugraben, was je nach Qualität oft genug überstundenlanges Gekratze und Gepinsel im strömenden Regen unter der Scheinwerferbeleuchtung des amtlichen Wagenparks bedeutete. Die letzte zu nennende Lösung kann ein Wachdienst sein, der in professioneller Form allerdings in den seltensten Fällen finanzierbar ist. Also werden hin und wieder die eigenen Mitarbeiter zu solch unschönen Tätigkeiten genötigt. Ein Bekannter von mir hat beispielsweise einmal eine regendurchnässte Nacht in einem Sommerschlafsack auf einer Kuhwiese neben einer Moorleiche verbracht. Damit die gefräßigen und vor Neugier strotzenden Rinder weder die Mumie noch seinen Schlafsack anknabbern, war er gegen Mitternacht dazu gezwungen gewesen, einen Stacheldrahtzaun zu organisieren und um die provisorische Schlafstätte zu ziehen.
Angesichts der bisherigen Abläufe in diesem Amt war klar, dass wie so oft auch hier Zeit und Geld nicht gepaart auftraten. Und Intelligenz fehlte auf höherer Ebene schließlich sowieso. Daher war ich davon überzeugt, dass Senff alles darangäbe, den Befund in kürzester Zeit zu dokumentieren und auszunehmen.
Wieland blickte panisch, ich versuchte ihn erst einmal zu beruhigen: „Fahr doch mal zur LPG und ruf im Amt an, vielleicht erwischst du ihn noch?“
„Ja, ja, du hast recht, das sollte ich machen“, stammelte er nervös und mit herumirrenden Blick.
„Ich kann ja mal mit ein paar Leuten zu deiner Grabung rüberfahren“, half ich weiter, „wenn das heute noch raus soll, wirst du sowieso noch Verstärkung brauchen.“
„Ja, stimmt“, er drehte sich um, lief zu seinem Wagen, „ich fahr dann schnell zur LPG“, und war wieder genauso schnell vom Acker, wie er gekommen war.
„Jan, Wernher, Dieter? Ihr kommt mit. Micha, du kannst mit Sylvia und Hans erst mal einräumen, wenn ihr die Sachen verstaut habt, könnt ihr nachkommen.“
Die drei Arbeiter nahmen sich aus dem Werkzeugcontainer ein paar Kellen und zwei, drei Eimer mit, stellten sie in den Kofferraum meines Wagens und stiegen ein. Ich kramte währenddessen meine Unterlagen in eine Tasche zusammen und warf sie dazu. Wir waren alle schon sehr gespannt auf das Grab, mussten aber wie üblich an der Bahnschranke halten, bevor wir nach Krützin fahren konnten.